Die geheimnisvolle Postkarte!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 Erstes Kapitel

 

 

In dem Betula eine geheimnisvolle Postkarte entgegennimmt (ein Auszug)

 

Jetzt schreiben schon die Toten Karten! Da fresse ich doch einen Besen!“, rief die Postfrau aufgeregt, als
sie den Hausflur betrat. Sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie offenbar einen zu langen Blick
auf die Postkarte in ihrer Hand geworfen hatte. Auch gegenüber dem Mädchen nicht, das unter dem Briefkasten
hockte und sich einen Holzsplitter aus dem Daumen zog.
An den Sargtischler Ferdinand Krummnagel“, las sie mit gespielt wichtiger Stimme vor.Das dürfen Sie nicht!“, rief Betula, sprang erschrocken auf und riss der Botin die Karte aus der Hand. Na und“, erwiderte die Postfrau schnippisch und eilte zur nächsten Tür, hinter der Frau Zwirnfitz wohnte. Frau Zwirnfitz, die Nachbarin von Ferdinand Krummnagel, war eine kleine, mollige, alte Dame, die in einem
fort häkelte. So auch in dem Moment, als sie auf das Klopfen der Postfrau hin
die Tür öffnete. Sie trug eine groß geblümte Kittelschürze, deren Taschen mit bunten Garnknäueln vollgestopft waren.
Frau Zwirnfitz“, begann die Postfrau aufgeregt, „der HerrKrummnagel bekommt demnächst Besuch. Von der
toten Martha! Stellen Sie sich das mal vor! Dann kommt die sicher auch zu Ihnen, wo Sie doch in
ihrer Wohnung wohnen …“
Was reden Sie denn für einen Unsinn?“, erwiderte Frau Zwirnfitz gereizt und zupfte unruhig an dem Häkelgarn. Betula winkte mit der Postkarte. „Sie hat einfach Großvaters Post gelesen!“ Frau Zwirnfitz zischte die Postfrau vorwurfsvoll an:
„Schlimm genug, dass Sie so schrecklich neugierig sind.
Aber dass Sie auch noch so dumm sind und glauben, dass Tote –“
Dumm?“, fuhr die Postfrau wütend dazwischen.
„Natürlich weiß ich, dass Tote keine Karten schreiben. Ich sage Ihnen mal was. Die Göre hat die Karte
selbst geschrieben.“
Das ist nicht wahr!“, rief Betula empört. Die Postfrau zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Die Göre lungert doch dauernd im Hausflur herum und
brütet irgendwelche Ideen aus. Als ich so alt war wie die, habe ich meine Ferien auf dem Kartoffelacker verbracht.
Und ich sage Ihnen noch etwas: Geschadet hat es mir nicht.“
Frau Zwirnfitz unterbrach das Häkeln, was nur äußerst selten vorkam. „Nun ja, das sehe ich etwas anders.
Außerdem lungert Betula nicht im Flur herum, sondern kühlt sich hier ab. Schließlich hat sie zwei Stunden
in der glühenden Hitze auf dem Hof die dämlichen Würmer aus dem Bauholz gepult.“
Die Postfrau sah Betula argwöhnisch an. „Ich werde die Karte zur Polizei bringen!“, rief sie. Betula sah mit Schrecken, wie sie schnaufend immer näher kam. Doch ehe die alte Frau ihr Ziel erreicht hatte,
war Betula mit der Karte in Großvaters Wohnung verschwunden.
Das war knapp! Sie ließ sich in den alten Fernsehsessel fallen. Ihr weiter Rock blähte sich für einen Moment zu einem
fröhlichen, blauen Ballon und brachte Betula zum Lachen. Dann betrachtete sie die Karte. Es handelte sich um eine
ganz gewöhnliche Ansichtskarte der Stadt Hintermühlen, in der ihr Großvater seit nunmehr über siebzig Jahren lebte.
Nur einen ganz kurzen Blick wollte sie auf die Rückseite werfen. Rasch drehte Betula die Karte herum.
Voller Neugierde las sie die Zeilen.
Ferdinand, Du kannst mich nicht länger von dem Haus unserer Eltern
fernhalten. Ich bin es leid, Dein Schicksal zu leben.
Bis bald. Deine Schwester Martha
Betula lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Sie hatte ihren Großvater nur ein Mal von seiner
Schwester Martha reden hören. Und auch gar nicht viel. Eigentlich nur einen einzigen Satz:
„Die hat der Teufel geholt!“
Deshalb hatte sie geglaubt, Martha sei tot. Betula las die Zeilen auf der Karte
noch einmal und noch einmal.
Da fiel ihr das Foto an der Wohnzimmerwand ein, von dem es
hieß, dies sei Martha. Betula hatte sich nie dafür interessiert, aber nun wollte sie es aufmerksamer untersuchen.
Auf dem Foto war ein Mädchen zu sehen, das ungefähr so alt war wie sie selbst. Also zehn.
Und wie erschreckend ähnlich es Betula sah! Es hatte ziemlich dünne Arme und eine genauso
lange, spitze Krummnagelnase. Das glatte Haar reichte bis zu den Schultern. Welche Farbe es
genau hatte, konnte Betula auf der Schwarz-Weiß-Fotografie nicht erkennen. Aber es war auf jeden Fall dunkel.
Das Mädchen hielt stolz eine Holzpuppe in ihren Händen, als hätte es diese soeben geschenkt bekommen.
Betula wollte das Bild von der Wand nehmen, doch noch ehe sie es berühren konnte, fiel es herunter. Erschrocken schaute Betula auf den Boden. Der Holzrahmen war wie poröses Papier in sich zusammengefallen
und feines braunes Mehl bedeckte die zersprungene Glasplatte. Vorsichtig fischte Betula mit den Fingerspitzen
die Fotografie zwischen den Scherben hervor, pustete den Staub weg und entdeckte, dass auf dem Bauch der
Puppe etwas geschrieben stand. Die Fotografie war sehr verblasst und die Buchstaben winzig klein.
Mit bloßen Augen konnte sie das Geschriebene nicht erkennen. Flink holte sie die Leselupe ihres Großvaters aus
der Kommode und hielt sie über das Bild. Und da las sie – Betula.
Für einen Moment blieb ihr Herz stehen.
Das … das ist mein Name!“, entfuhr es ihr. Hastig drehte sie die Fotografie um. In Kinder-Handschrift hatte jemand
geschrieben:
In Erinnerung an meine liebe Schwester Martha. Weihnachten 1921
Betula war schaurig und freudig zugleich zumute. Ihr Blick huschte zwischen der Fotografie und der Postkarte
hin und her. ‚Du hättest die Karte nicht lesen dürfen‘, dachte sie. Aber wie konnte sie denn ahnen, dass …?
Ja, was denn eigentlich? Hatte ihr Großvater ein Geheimnis?

Das Knarren der Holzdielen im Zimmer nebenan ließ Betula zusammenfahren.
Deutlich hörte sie die kräftigen Schritte ihres Großvaters und dann stand er auch schon im Türrahmen.
Ein paar Hobelspäne hatten sich in seinen Bartstoppeln verfangen, Gesicht und Glatze waren rot und verschwitzt.
In seinem Blick lag die mürrische Ungeduld eines Tischlers, der nur widerwillig seine Arbeit unterbrochen hatte.
Steif vor Schreck hielt Betula ihm die Karte hin. Marthas Foto verbarg sie hinter ihrem Rücken. Du hast Post“,
schoss es aus ihr heraus...